Mai
Die Geschichte einer Liebe
Rabea Müller
Langsam steige ich die Stufen zum Dachboden hinauf. Sie knarren. Das verursacht mir eine Gänsehaut und ich habe das Gefühl, etwas hält mich zurück, während es mich gleichzeitig vorantreibt. Woher dieses Gefühl kommt, vermag ich nicht zu sagen. Ich kann nur Stufe um Stufe erklimmen, so lange, bis ich vor der Tür mit den Schnitzereien stehe.
Tief atme ich durch, drücke dann die Türklinke hinunter und schiebe die Tür vorsichtig auf. Ihr lautes Quietschen, das in ein Knarren übergeht, lässt mich zusammenfahren. Wann bin ich das letzte Mal hier hinaufgestiegen?
Damals, vor langer Zeit, war diese Kammer direkt unter dem Dach, weit weg von dem, was sich unten abspielte, stets mein Zufluchtsort. Wo ist sie nur hingegangen, die Zeit?
Leise betrete ich den Raum hinter der Tür. Etwas huscht an mir vorüber, ich kann nicht erkennen, was es ist. Vielleicht eine Maus? Meine Augen müssen sich erst an das diffuse Licht um mich herum gewöhnen. Lichtnadel um Lichtnadel durchbricht mit einem Mal die Wolkendecke draußen und taucht durch die Dachluke hinein in eine stille, dämmerige Welt – eine Welt, in der schon vor Jahrzehnten mein Herz aufgehört hat zu schlagen. Allein die Staubkörnchen tanzen noch auf den Lichtbahnen von einst und freuen sich des Lebens. Wie hatte ich diesen Ort je verlassen können? In ihm findet sich doch all das, was ich sonst nirgendwo unterzubringen vermag.
Zögernd trete ich an meinen Schreibtisch. Er steht noch immer direkt unter der Dachluke. Ich setze mich auf den Stuhl, der noch genauso dasteht, als sei ich gerade erst aufgesprungen und umhergewandert – so, als suche ich nach einer neuen Idee; einem Gedanken, den ich festhalten muss, ehe er sich in der Unendlichkeit verliert. Dieser Ort hier, ich habe ihn geliebt! So viel Sehnsucht steckt in dem alten Holz des Tisches, so viele Träume sind hier gespeichert. Gedankenverloren fahre ich mit den Fingerspitzen durch den Staub, ziehe eine Schublade nach der anderen auf, fühle in sie hinein und schließe sie beinahe ruckartig wieder. Soll ich wirklich die Schatten der Vergangenheit hervorholen? Mich in ihnen verlieren?
Meine Finger stoßen an etwas Hartes. Behutsam ziehe ich es heraus. Es ist ein alter, verschnörkelter Schlüssel. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Wie kommt er in diese Schublade? Und … wer hat ihn dort hineingelegt? Wer ist hier oben gewesen, ohne dass ich es bemerkt habe?
Ich betrachte den Schlüssel von allen Seiten, wiege ihn in der Hand. Er fühlt sich schwer an. Zu welchem Schloss er wohl gehört? Soll ich mit ihm das finden, was sich eigentlich nicht finden lassen will?
Ich erhebe mich und sehe mich um, wandere langsam durch den Raum, durchmesse ihn mit meinen Schritten. Vor der zweiten Dachluke bleibe ich stehen. Sie ist mit einem dunklen Tuch verhängt. Ich ziehe es hinunter und muss blinzeln, als sich Lichtnadel um Lichtnadel in meine Pupillen bohrt. Wenigstens ist es jetzt etwas heller in der Kammer und es lauern nicht mehr ganz so viele Schatten in den Ecken.
Mein Blick verharrt an einer kleinen Truhe aus dunklem Holz mit rostigen Eisenbeschlägen. Wie kommt sie an diesen Ort? Neugierig trete ich näher. Sie steht auf der Kommode, die meine Tagebücher enthält. Ich beuge mich vor, um besser sehen zu können. Die Truhe scheint sehr alt zu sein. Ich befühle das Schloss und versuche, den Deckel aufzuklappen, doch er lässt sich nicht bewegen.
Gehört der Schlüssel etwa zu diesem Schloss?
Ich ziehe ihn aus der Hosentasche, stecke ihn ins Schlüsselloch und drehe ihn vorsichtig. Ein leises Klacken ertönt und der Deckel lässt sich zurückklappen. Ich taste in die Truhe und fühle Papier zwischen den Fingern. Vorsichtig ziehe ich es heraus.
Es sind Briefe, die ich da zutage fördere und ihr Papier fühlt sich brüchig an. Wer hat sie geschrieben? Ich drehe mich ins Licht und versuche, etwas auf den Umschlägen zu entziffern, doch es ist zu düster in der Kammer. Soll ich sie nicht lieber mit hinunter nehmen oder … dürfen sie nur hier oben gelesen werden? Warum auch sonst steht die Truhe hier oben? Derjenige, der sie hierhergebracht hat, beabsichtigt doch sicher, dass ich die Briefe hier, inmitten einer längst vergangenen Zeit, lese? Vielleicht, um …?
Ich schüttele die Gedanken ab, lege das Bündel auf die Kommode und fühle nochmals in die Truhe. Da stoßen meine Finger an eine kleine Schachtel.
Ich ziehe sie behutsam hervor und öffne sie. Und da stürmt alles gleichzeitig auf mich ein. Dieses Schimmern, ich kenne es!
Er ist wieder aufgetaucht. Oder war er nie verschwunden, sondern immer bei mir und ich habe ihn bloß nicht wahrgenommen? In ihm ist ein ganzes, nein, zwei ganze Leben gespeichert. All die Freude, das Lachen, die Gemeinsamkeit – und die Traurigkeit.
Er erzählt von einer Verbundenheit, die tiefer geht, als alles andere in meinem Leben. Ich nehme ihn aus der Schachtel. Es ist ein Silberring in Herzform, groß und dick, in dem ein wunderschön geschliffener Granat ruht.
Ich fahre mit den Fingerspitzen über die zwei Namen, die vor langer Zeit in das Silber graviert wurden. Sie sind noch immer da. Er ist zu mir zurückgekehrt, endlich! Nun kann ich ihr wieder lauschen, der Geschichte einer Liebe …