Juli
Der magische Laden
Christa Stopp
«Etwas müssen Sie schon hier lassen, wenn Sie den mitnehmen wollen», sagt der Mann hinter der Theke des Ladens und legt die Hand auf den Stein. Kristalle aller Größen und Farben schimmern in Vitrinen. Davor plätschert ein kleiner Springbrunnen. In einer Ecke verbreitet eine Stehlampe gedämpftes Licht. Sie kramt den Geldbeutel hervor und fragt:
«Was soll er denn kosten?»
«Nein, nein», antwortet der Mann mit tiefer heiserer Stimme, schiebt seinen Hut ins Gesicht und ergänzt:
«Mit Geld ist der nicht zu bezahlen.»
Sie starrt ihn entgeistert an. Seine Augen blitzen unter der Hutkrempe und das Tuch um seinen Hals zittert.
«Was, was wollen Sie denn sonst dafür?», stottert sie und schaut ihn verblüfft an. Sein Gesicht ist markant und doch ausdruckslos, seine Augen funkeln dunkel.
Da verschwimmt plötzlich das Gesicht des Mannes, bläht sich auf, wird zur Fratze; sein Mund öffnet sich, wird größer und größer und riesige Zähne fletschten hervor. In den Vitrinen klirren drohend Gläser. Das Licht flackert. Das Regal hinter dem Mann öffnet sich.
Schemenhaft tauchen Gestalten auf: Ein Bankbeamter schüttelt den Kopf, die Tochter fiebrig im Bett, Peter, ihr Freund, irgendwo in den Armen einer anderen. Und sie entdeckt sogar sich selbst mit vollem Glas und einem Joint in der Hand auf einer dieser Partys. Schon verschwimmt alles vor ihren Augen und das Regal schließt sich wieder.
Erschrocken weicht sie einen Schritt zurück und blickt den Mann entsetzt an, senkt dann den Kopf und deutet zum Stein unter seiner Hand. Den will sie unbedingt haben, und zwar jetzt und heute noch.
Hinter ihr tickt laut die Standuhr. Wasser läuft über den Rand des Springbrunnens.
«Wollen Sie ihn nun haben oder nicht?», klingt die dunkle Stimme des Mannes wie durch einen Nebel.
«Ja, ja», stammelt sie. Ihr Mund ist trocken, ihre Stimme belegt. Sie atmet heftig und fragt schließlich:
«Was, was soll ich Ihnen denn sonst dafür geben?»
Der Mann streicht sich über seinen Bart, sieht sie fordernd an und deutet auf ihren Rucksack. Der Stein unter seiner Hand schimmert grau. Sie holt den Geldbeutel hervor und schiebt ihm langsam Scheine und auch ihre Scheckkarte hin. Der Mann schiebt es zurück, beugt sich vor und scheint größer zu werden. Drohend funkeln seine Augen, eine Hand erhoben. Sie starrt ihn entsetzt an. Dann kramt sie ihre Zigaretten hervor und hält sie ihm hin. Der andere macht eine Handbewegung und sie legt das Päckchen auf die Theke. Nun hebt er sein Kinn und deutet damit auf ihren großen Rucksack. Die Hand auf dem Stein zuckt. Die Farbe des Steins wechselt zu giftigem Grün.
Wieder starrt sie ihn an und schluckt. Dann greift sie in ihren Rucksack und stellt eine kleine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit auf die Tischplatte. Der Mann nickt, hebt die Augenbrauen und schaut sie wieder fragend an.
Hinter ihr beginnt die Uhr die Stunde zu schlagen. Der Springbrunnen gurgelt, etwas klirrt in einem Regal. Da trommelt der Mann mit den Fingern auf die Tischplatte und winkt ihr mit der anderen Hand auffordernd zu. Seine Hände erscheinen ihr wie riesige Pranken, die sie packen wollen. Sie zittert, Schweiß tritt auf ihre Stirn, sie taumelt, hält sich an der Theke fest. Schmerz tobt durch ihren Körper, jagt die Wirbelsäule hoch, breitet sich aus, wird stärker und pocht schließlich in ihrem Kopf. Ihre Gedanken rasen, überstürzen sich, hämmern in allen Teilen ihres Gehirns.
Was will er denn noch, nicht wirklich alles?, denkt sie verzweifelt.
Plötzlich blitzen farbige Lichter auf. Dann verschwimmt alles um sie. Da sendet der Stein rote Strahlen aus. Gleichzeitig leuchten auch die Kristalle und Gläser in den Vitrinen rot.
Jetzt beginnt sich alles um sie zu drehen: Regale, Gläser, die Standuhr, der Brunnen, die Lampe, der Mann hinter der Theke, rote Wände, rote Lichter kreisen und tanzen um sie.
Sie fühlt sich wie in Watte gepackt, wie in einem Nebel gehüllt. Sie will schreien, bringt aber nur ein heiseres Krächzen hervor. Was passiert da mit mir, was soll ich nur tun? Unzählige Fragen strömen durch ihr Gehirn und sie fällt in eine tiefe Traurigkeit.
Da kramt sie wie in Trance alles aus ihrem Rucksack, wirft Briefe, Rechnungen, Fotos, Atteste, Bankbelege, Mahnungen, ein Buch, Stifte und Hefte, Schlüssel, Kalender und eine Brille auf den Tisch. Der Mann nickt, sieht sie jedoch immer noch fordernd an, hebt wieder die Hand und winkt. Da legt sie schließlich langsam und zögernd ein kleines Päckchen mit weißem Pulver auf die Theke, das ihr ein Dealer kurz zuvor zugesteckt hatte. Der Mann hebt die Augenbrauen. Sie blickt in seine dunklen Augen, atmet schwer und senkt schließlich beschämt den Kopf.
Zuletzt kramt sie ihren Spiegel hervor. Und als sie ihn auf den Tisch legt, zerbricht er in tausend Scherben. Plötzlich sieht sie sich selbst in allen Facetten, Farben und Situationen. Bruchstücke ihres Lebens leuchten für einen kurzen Moment auf und verblassen wieder. Hell und Dunkel wechseln sich ab im stetigen Auf und Ab, einem nicht enden wollenden Tanz gleich. Sie will es festhalten. Doch schon fließen sämtliche Teilchen des Spiegels wieder ineinander und bilden eine klare Oberfläche. Jetzt erscheint ihr eigenes Spiegelbild, zuerst noch verschwommen, dann immer klarer. Und als sie sich genau betrachtet, erkennt sie augenblicklich sich selbst, ihr wahres Ich.
Nun leuchtet der Kristall hellgrün und mit ihm sämtliche Gegenstände im Laden. Da hebt der Mann die Hand vom Stein. Der strahlt nun in hellem goldgelbem Licht. In diesem Licht sieht sie ihre Tochter fröhlich tanzen, Peter am Schreibtisch im Büro und den Bankbeamten ihr freundlich zunicken, sich selbst in einem neuen bunten Kleid.
Tränen der Erleichterung treten in ihre Augen. Plötzlich ist das Pochen in ihrem Kopf verschwunden und eine Gewissheit macht sich breit, dass alles gut werden wird. Sie fühlt eine große Last von sich genommen. Und sie lacht, legt ihre Hände aufs Herz und möchte am liebsten singen und tanzen vor Freude.
Wieder schlägt die Uhr hinter ihr. Das Geräusch bringt sie in die Gegenwart zurück. Das Licht flackert. Der Springbrunnen plätschert. Ihre Sachen liegen nun im Bassin, werden umspült und benetzt. Es brodelt und zischt. Fasziniert betrachtet sie das Geschehen. Dunkle Schatten steigen daraus empor und verschwinden nach oben.
Jetzt lächelt der Mann hinter der Theke zufrieden. Hut und Bart sind verschwunden und blonde Haare fallen in Wellen auf seine Schultern. Seine hellen Augen strahlen und seine Hände sind weich und feingliedrig.
Da hebt der Mann langsam die Hand vom Kristall und schiebt ihn ihr zu. Der Stein leuchtet von innen heraus und funkelt wie ein großer Diamant. Und als sie danach greift, strahlt auch sie vor Freude. Der wundersame Stein gehört nun ihr.